Seit Menschen denken und schreiben, steht die Idee des kreativen Schreibens wie das strahlende Bild einer verlockenden Stadt vor ihnen: Atlantis, Rungholt oder Vineta … Das sage ich nicht zufällig. Denn einerseits ist – zumindest beim Schreiben von Büchern – das „kreative Schreiben“ so was wie der weiße Schimmel: Wo es nicht nur um die reine Auflistung von Fakten geht, ist Schreiben immer mehr oder weniger kreativ. Da klingt dieses doppelt Gemoppelte schon fast verzweifelt … Und genau das ist mein „Andrerseits“: Das kreative Schreiben stößt nämlich andererseits immer wieder so sehr an Grenzen, dass es bei näherer Betrachtung fast schon etwas Unmögliches, Utopisches haben kann. Dann nämlich, wenn es so definiert ist, dass das „Kreative“ für Unbewusstes, ganz tief in uns Steckendes, absolut Individuelles, Emotionales, durch und durch Subjektives steht. Das Schreiben dagegen Vermittelbarkeit, Information, Verständlichkeit, gar Objektivität für sich beansprucht. Wie sollen die zwei völlig disparaten Ansprüche jemals zusammenfinden?! Utopisch! Wunschdenken! Subjektiv UND objektiv, Emotion UND Information – das geht niemals zusammen. Oder doch?!

Kurze Geschichte des kreativen Schreibens

Zumindest ist es ein heikles Unterfangen. Da wundert es gar nicht, dass das „kreative Schreiben“ im Lauf seiner Geschichte immer wieder umgedeutet werden musste. Denn es krachte mehr als einmal ziemlich vor die Wand. Das ist einer der Gründe dafür, dass es manchen Menschen heute nicht (mehr) unbedingt attraktiv vorkommt. Und das nicht erst seit gestern, wie die nette Gleichsetzung auf Wikipedia von „Schreibspielen“ und „kreativem Schreiben“ beweist: „So wurden bereits in der Antike Schreibspiele verwendet. Im Barock war der spielerische Umgang mit Sprache Zeichen von hoher Bildung und Eloquenz“ – das steht unter „Begriff und Geschichte“ im Stichwort „kreatives Schreiben“ ziemlich weit vorne. Genau dieser Satz wird von unzähligen Workshop-Anbieter/innen zum kreativen Schreiben ganz ungefragt übernommen … also mal kurz nachgefragt: Stimmt das überhaupt?

Barock?! Schiefrunde Perlen …

Eigentlich sagt die Übersetzung des aus dem Portugiesischen kommenden Begriffs „Barock“ schon alles: eine „unregelmäßige, schiefe Perle“ sei das, „schiefrund, übertrieben und verzerrt“, schreibt Gero von Wilpert in seinem Sachwörterbuch der Literatur. Wer in dieser Epoche lebte und schrieb (malte, komponierte, predigte …) war im Geist seiner Zeit nicht selten hin- und hergerissen: zwischen Renaissance und Aufklärung, Pest, höfischer Kultur, dreißigjährigem Krieg, der Liebe zu Schelmenromanen, derben Witzen, oft mystisch verstandener Religiosität, starken Nationalismen, manieristischem Pathos, komplizierten Rätseln und ziemlich fatalistischer Vergänglichkeits-Fantasie. Mit „Lebensgier, Pathos und Innerlichkeit, Regelzwang und gedanklicher Beweglichkeit“ beschreibt von Wilpert – neben vielen anderen Merkmalen – die Literatur dieser Zeit. Und wahr ist: Aus diesen ganzen „Unregelmäßigkeiten“ entstanden unter anderem Sprachspiele (die oft auf griechische Vorbilder zurückgehen), die sich heute noch im Repertoire des „kreativen Schreibens“ als Lektionen bewahrt haben. Etwa: Schreibe erst das das ABC senkrecht und dann waagrecht zu jedem Buchstaben ein eigenes Wort. Sprachliche Scharaden konnten Silbenrätsel sein, es gab so nette Dinge wie „Wortgriflein“ (ein Rätselreim) oder die „Letterkehr“ (wie bei einem Anagram: Bilde aus allen Buchstaben eines Wortes ganz neue Worte). Aus der grafischen Anordnung von Worten, Silben und Buchstaben wurde „Bilderlyrik“ gebaut: die Sprachaufzeichnung ergab ein Kreuz, eine Pyramide, ein Ei, eine Krone, ein Schwert, einen Baum oder einen Pokal. Übrigens: auch das „schiefrund“ aus meiner Überschrift ist solch ein Schreibspiel. Da lautet die Aufgabe:

[bctt tweet=“Bring zusammen, was scheinbar gar nicht zusammenpasst!“ username=“@texthandwerk“]

Wer solche Kreativ-Übungen mit barocken Wurzeln in zeitgemäßer Form und Sprache sucht, wird beispielsweise bei Barbara Pachl-Eberhart fündig, deren Ratgeber „federleicht“ unter anderem auch „kreative Schreibwerkstatt“ ist. Ich habe hier darüber geschrieben.

Wenn kreativ sein spielerisch sein bedeutet

Bei vielen kreativen Schreibübungen geht es darum, die Lust am Schreiben durch einen spielerischen Zugang (wieder) herzustellen. Und es stimmt wirklich: Viele dieser Spiele haben ihre Wurzeln bereits in der Antike – oder eben im Barock-Zeitalter. Eine recht brauchbare Übersicht über viele davon gibt es hier.

Wenn kreatives Schreiben das Unbewusste ergründen will

Und dann kam André Breton (1896 bis 1966) mit seinem „automatischen Schreiben“ – was an vielen Stellen heute ebenfalls als „kreatives Schreiben“ gilt.  Ich habe einige Protokolle der Sitzungen von Breton und seinen Kollegen gelesen – und ehrlich gesagt: manches davon ist reines Gestammel. Was nicht verwundert, schließlich sollte das Unbewusste ungefiltert, ohne den Verstand oder andre „Kontrollmechanismen“ zu aktivieren, notiert werden. Und es war eine ziemlich autoritäre Veranstaltung. Wessen Nase dem Ober-Dichter Breton nicht gefiel, durfte an den elitären Treffen der meist schwer von Drogen vernebelten Dichter nicht mehr teilnehmen. In die Kunstgeschichte ging Breton als Surrealist ein – und der Surrealismus ist eine wunderbare Kunstgattung – in der Malerei. In der Literatur gibt es viele Überlappungen zum Dadaismus – den Breton allerdings vehement ablehnte. Und surrealistische Literatur unter Bretons Anleitung, ganz und gar kreativ, als Traumprotokoll, gern auch unter Hypnose geschrieben? Schwierig. Zumindest für Leserinnen und Leser. (Sicher, es gibt Ausnahmen: Bretons Roman „Nadja“ etwa. Oder manches von Aragon und Apollinaire.) Mich wundert es jedenfalls nicht, dass auch heute noch in manchen Kursangeboten unter dem Etikett „automatisches Schreiben“ sehr kreativ obskure Geister angerufen werden, etwa, um „mit dem Kristallbewusstsein Unbewusstes sofort sichtbar“ zu machen.

Kreativ schreiben zwischen Europa und den USA

Andere definieren die Anfänge des kreativen Schreibens erst ab den 1970er Jahren im englischen Sprachraum, in den USA und in Großbritannien. Da geht es anfangs ausschließlich um literarische Kompetenz, in workshops, Schreibgruppen, vor allem im universitären Kontext: Wie schreibe ich einen verdammt guten Roman?

Doch durch den universitären Rahmen gipfelten diese creative-writing-Kurse nicht selten darin, dass mit ihrer Hilfe vor allem um Stipendien, Promotionen, Publicity für eigene Werke und/oder Druckkostenvorschüsse der Universitäten geworben werden sollte. Die akademischen creative-writing-Programme seien dadurch „vergiftet“ worden, urteilten nicht wenige Zeitgenossen. Auch entstand damit ein System von Gefolgschaften zwischen schon etablierten Lehrkräften/Schriftstellerinnen und ihren Student/innen. Von der angestrebten kreativen Freiheit blieb da wenig übrig. Und als die Bewegung in Europa Fuß zu fassen begann, wurde in Deutschland statt Creative Writing vor allem therapeutisches Schreiben gelehrt: Selbsthilfe statt Poetik.

Denn bald schon hatte sich das kreative Schreiben in mindestens zwei Lager geteilt: Der Selbsthilfegedanke hat seine Wurzeln ebenfalls vor allem in den USA: kreatives Schreiben als angewandte Therapie. Und wohl die beste „Botschafterin“ zwischen Europa und den USA ist Julia Cameron, die mit dem „Weg des Künstlers“ einen „spirituellen Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität“ schuf. Das Buch erschien im Jahr 2000 in deutscher Übersetzung und enthält vor allem die berühmt gewordene Anregung zum Schreiben der „Morgenseiten“: jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen drei Seiten ohne groß nachzudenken schreiben, so, wie die noch halb verschlafenen Gedanken eben gerade wollen. Ziel ist, sich störender Kontroll- und zensierender Gedanken zu entledigen, und sich auf eher meditativer Ebene mit seinen Gedanken zu verbinden. Im Ansatz also dem „automatischen Schreiben“ eng verwandt. Aber im Gegensatz zu Cameron hätte Breton wohl nie vom „spirituellen Pfad“ des Schreibens gesprochen. Genau das aber zog unter anderem in Deutschland zahlreiche Menschen regelrecht in Bann.

Kreatives Schreiben auf deutsch

In Deutschland geht es derzeit beim kreativen Schreiben tatsächlich meist um Selbstreflexion, Selbsttherapie, den schriftlichen Ausdruck biografischer Erfahrungen. Und das ist natürlich wiederum den „ernsthaft“ literarisch und kreativ Schreibenden ein Dorn im Auge. Wenn es um „echte Literatur“ geht, spaltet das „kreative Schreiben“ Deutschland mittlerweile in Studierende (etwa der Universität Hildesheim, an der Hanns-Josef Ortheil 1999 den ersten Studiengang für kreatives Schreiben und Kulturjournalismus gründete) die – um mit dem Hildesheim-Absolvent Stephan Porombka zu sprechen – allenfalls das „neue kreative Schreiben“ akzeptieren. Und in das Lager der – oft böse als „schreibende Hausfrauen“ verunglimpften – Laien, die über das kreative Schreiben ihren eigenen Weg finden und gehen wollen.

Wenn kreatives Schreiben zur Therapie wird

Ein letzter Aspekt ist noch nötig: Dass Schreiben wirklich therapeutische Wirkung haben kann, ist mehrfach bewiesen. In Deutschland steht dafür vor allem Silke Heimes. Sie ist Ärztin und Autorin sowie Gründerin und Leiterin des Institutes für kreatives und therapeutisches Schreiben in Darmstadt. Schon in ihrer Doktorarbeit befasste sie sich mit „Schreiben als Selbstheilung“ – und über die Poesietherapie verbucht nicht nur sie zahlreiche Erfolge mit kreativem Schreiben, nicht nur bei psychisch kranken Menschen. Ich bin sicher, hier werden sich in Zukunft noch viele spannende Wege, auch und gerade im interdisziplinären Bereich, zeigen!

Hoffnung Neurobiologie?

Jetzt würde ich gern noch mal auf den Anfang meines Textes zurückkommen: Wenn kreatives Schreiben idealerweise so unvereinbare Pole wie Subjektivität und Objektivität, Emotion und Information, Selbsttherapie und (per Buch) vermittelbares Wissen in sich vereinen soll, dann  gibt es momentan mit Hilfe der Neurobiologie ziemlich viel Hoffnung, dass das tatsächlich gelingen kann – stellvertretend hier durch Gerald Hüther formuliert. Denn der knüpft da an, wo ein Instrument des kreativen Schreibens schon lange greift: Bereits 1984 hat die amerikanische Schreiblehrerin, Anglistin und Kunstpädagogin Gabriele Rico die Arbeit mit Clustern populär gemacht. „Wenn ich beginne, meine Einfälle aufzuschreiben und sie zu gliedern, aktiviere ich vor allem damit mein ordnendes, begriffliches, linkssphärisches Denken, um es mit dem ganzheitlich-bildhaften Modus der rechten Hemisphäre in einer möglichst lebendigen Choreografie zu verbinden.“ Das geschieht ganz einfach durch das Zeichnen/Schreiben und Verbinden einzelner Begriffe – woraus ein inneres Beziehungsgeflecht des ins Auge gefassten Themas und dessen Einzel-Aspekten entsteht.

Integration rationaler und emotionaler Aspekte des kreativen Schreibens

Die Methode des Clusterns soll diesen „Tanz“ unterstützen, betont die Schreib- und Sozialwissenschaftlerin Renate Haußmann in dem Buch, das sie gemeinsam mit Petra Rechenberg-Winter über das kreative Schreiben im systemischen Kontext („Alles, was in mir steckt“) verfasst hat. Dabei wird am besten abwechselnd mit der rechten und der linken Hand geschrieben oder gezeichnet. Die Autorinnen fassen zusammen: „Auf diesem Hintergrund verstehen wir kreatives Schreiben als einen ganzheitlichen Prozess im Sinne des integrativen Ansatzes, der literarische, spielerische, kognitive, psychische, spirituelle und soziale Schreibaspekte zusammenführt in einer Integration rationaler und emotionaler Aspekte des kreativen Schreibens.“

Solche und ähnliche Hoffnungen sind schon früher geäußert worden. Aber dafür, dass auch noch der rationalste Mensch diesen utopie-verdächtigen Ansatz wirklich ernst nehmen kann, sorgen erst neuerdings neurobiologische Erkenntnisse. Gerald Hüther etwa betont, dass unser Gehirn ganz genauso werden könne, wie wir es benutzen. Wenn wir nur mit Begeisterung tun, was wir tun. Denn dann werden neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, die unserem Gehirn zu neuen synaptischen Verschaltungen verhelfen. Mit anderen Worten: Unser Gehirn – und damit unser Denken – ist formbar. Und wir allein, beziehungsweise eben unsere Begeisterungsfähigkeit, können es aktiv formen!

So gesehen, ist das kreative Schreiben eine perfekte Möglichkeit, um

  • diese Neu-Formung unseres Denkens auf den Weg zu bringen
  • scheinbar Disparates zusammenzubringen,
  • uns selbst selbst besser verstehen zu lernen
  • uns mit anderen austauschen zu können
  • kreativ zu werden/zu sein

Und das ohne alle Vorschriften, Drogen, Anrufung obskurer Geister oder unter universitärem Konkurrenzdruck! Doch, ja! Kreatives Schreiben kann wirklich hilfreich sein!
[bctt tweet=“Bei allen Kontroversen rund um das kreative Schreiben finde ich: Damit geht schon ziemlich viel!“ username=“@texthandwerk“]

 

In eigener Sache

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Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.


 

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