Das Lektorat. Immerhin: Das grammatikalische Geschlecht ist eindeutig. Bedeutung, Aufgaben, notwendige Intensität, Berufsbild, Anforderungen und praktische Umsetzung dieser Tätigkeit jedoch waren noch nie sonderlich klar. Und werden mit jeder Umstrukturierung und Neudefinition von Verlagswelt und Textproduktionsmöglichkeiten unklarer. Von der Vielfalt virtueller Content-Produktion ganz zu schweigen …

Automatisierung contra Verstand

Sogar die Richtung, in die sich die Veränderungen bewegen, scheint nicht klar zu sein: Werden die Aufgaben eines Lektors, einer Lektorin komplexer, wichtiger, geradezu unverzichtbar im Prozess der Text-Produktion? Oder sind sie im Gegenteil verzichtbar, problemlos von automatisierten Korrekturprogrammen, allenfalls für ein paar Cent mit menschlichem Verstand und Fachwissen von miserabel bezahlten Menschen zu erledigen? Es liegt auf der Hand: Letzteres kann es nicht sein. Denn wenn die Verständlichkeit leidet, nutzt jeder Content am Ende überhaupt nichts.

Und dann gibt es die andere Seite der Medaille: Gerade im stark expandierenden Geschäft zwischen selbst produzierenden Autoren und Online-Verlagsplattformen ist das Lektorat zu einem wichtigen Werbe- und Verkaufsargument geworden. Das betrifft vor allem die Selfpublishing-Dienstleister.

„Ja, wo laufen Sie denn?“

Wer sich nur ein wenig mit dem Thema beschäftigt, wird schnell feststellen: Zwar können manche Schreibfehler durchaus von virtuellen Rechtschreibprogrammen korrigiert werden. Doch niemals alle. Außerdem genügt allein der Blick auf die Rechtschreibung nie, um einen Text rundum gut zu machen. Denn Sprache ist so viel mehr als Rechtschreibung. Leser:innen, deren Interessen, Verständnisfähigkeit und Sprachgewohnheiten spielen eine ebenso große Rolle wie Format oder das Medium, in dem ein Text erscheinen soll. Auf Facebook schreibe ich anders als für eine wissenschaftliche Arbeit.

Lektorat sieht ja auch noch auf ganz andere Dinge: Fragt, wie logisch und verständlich der Textaufbau ist, löscht Wiederholungen, prüft Fakten, hat Sprachstile im Auge, macht auf schiefe Sprachbilder aufmerksam. Zum Beispiel …

Und: Grammatik wie Rechtschreibung sind immer auch vom Kontext abhängig, Etwa, ob auf Loriots Rennbahn im gleichnamigen Sketch die Pferde oder die Menschen laufen sollen: „Ja, wo laufen sie denn?!“ meint die Pferde – und macht einen großen Teil des Witzes aus. „Ja, wo laufen Sie denn?!“ würde den Gesprächspartner meinen – und den Sketch komplett unbrauchbar machen.
Oder die Frage, ob Alkohol in kleinen, kontrollierten Mengen – also“ in Maßen“ oder massenweise („in Massen“) getrunken werden soll. Welcher Algorithmus sollte einem Korrekturprogramm in solchen Fällen die richtige Entscheidung „beibringen“?

Nur Menschen können im Einzelfall richtige Entscheidung treffen

In anderen Fällen gehört die Grammatik zur „Handschrift“ eines Autors, macht einen Text erst richtig rund, unverwechselbar und ausdrucksstark. Ganz zu schweigen von den oft völlig absurden Vorschlägen gängiger Rechtschreibhilfen – haben wir alle schon erlebt. Ich behaupte: Selbst Laien merken sofort, ob ein Text gut lektoriert ist oder nicht. Von der exakten Rechtschreibung bis zur Grammatik, von der inhaltlichen Stimmigkeit bis zum gesamten Sprachduktus. Texte können sympathisch und kompetent oder schwammig, unangenehm, aufdringlich, unsympathisch wirken. Ohne, dass Leserinnen und Leser genau sagen könnten, woran das jeweils liegt: Ein Gespür für „gute Texte“ haben wir alle. Und so ein „guter Text“ fällt nicht vom Himmel. Er muss von Profis bearbeitet werden. Diese Arbeit funktioniert nicht ohne Nachdenken, persönliche Entscheidungen im Kontext des ganzen Textes, menschlichen Verstand, professionell geschultes Gefühl für Sprache und eine gewisse Sprach-Sensibilität. Aber niemals durch welche Software auch immer. Das ist der eine Punkt.

Das Lektorat: so viel mehr als vermutet

Ein anderer Punkt ist die zunehmende Komplexität des Berufsbilds eines Lektors, einer Lektorin. Mit der Digitalisierung der Buch- und Verlagsbranche sind unzählige neue Aufgaben auf das Lektorat zugekommen, die vor allem von freien Lektorinnen und Lektoren selbstverständlich aufgegriffen, umgesetzt und als Dienstleistung angeboten werden. Da gehören Texte für Blogs und Webseiten ebenso dazu wie Buchsatz oder das Buchmarketing. Und ständig kommen neue Arbeitsfelder dazu. Etwa das Lektorat der Sprachnachrichten für Smartspeaker. Und: „Braucht die Games-Branche denn kein Lektorat? Könnte man sich in Zukunft nicht auch das Lektorieren für YouTube-Videos vorstellen?“ Das fragt Professor Dr. Max Ackermann, Lehrstuhlinhaber für Verbale Kommunikation an der TH Nürnberg, hier im Interview mit Katja Rosenbohm – sehr spannend!

Vom Geld und von Zusatzqualifikationen

Die „Freien“ unter den Lektor/innen sind vermutlich die größte Gruppe dieses weitverzweigten Berufsbildes. Da sich aber leider auch die Vorstellung hartnäckig hält: „Das macht mir meine Ex-Deutschlehrerin gegen eine Einladung zum Abendessen in gleicher Qualität auch kostenlos!“, sind die Honorare, die angehende Autor/innen zu zahlen bereit sind, oft regelrecht lächerlich. Davon kann kein Mensch leben. Und das mit der Deutschlehrerin habe ich nicht erfunden, sondern wirklich erlebt. Leider.

Wie auch immer: Auch die schwer durchsetzbaren, realistischen Honorare für Lektorinnen und Lektoren sind ein Grund dafür, dass immer mehr von uns Zusatzqualifikationen erwerben. Bei mir zum Beispiel ist es das Autorencoaching – mehr dazu in einem Interview, das ich dem Selfpublishing-Dienstleister tredition gegeben habe. Einen guten Überblick über eine Menge hochqualifizierter Lektorinnen und Lektoren, die alle selbstständig sind, gibt es über den Verband der freien Lektorinnen und Lektoren hier.

Der Preis für die Dienstleistungen ist der eine Punkt. Aber ich finde auch: Es ist Zeit, mal eine möglichst grundsätzliche Klärung von Begriff und Berufsbild zu versuchen….

Begriffsklärung. Ein Versuch

Als Berufsbild definiert der Duden hier gleich schon die Königsdisziplin des Lektorats: den/die Verlagslektor/in als „Mitarbeiter, besonders bei einem Verlag, der Manuskripte prüft und bearbeitet, Projekte vorschlägt und Kontakt mit Autoren aufnimmt bzw. unterhält“. Hinzufügen wäre, dass Verlagslektoren in aller Regel nicht unerheblichen Einfluss auf die Auswahl der Neuerscheinungen des laufenden Verlagsprogramms haben. In solcher Funktion wird die Bedeutung des Lektorats selten unter-, manchmal eher überschätzt.

Ganz anders dagegen die Rolle des freien Lektors oder der Lektorin: Ihre Angebote werden leider häufig mit dem reinen Korrektorat verwechselt. Nicht ganz unschuldig daran waren schon vor über 20 Jahren beispielsweise freie Lektorate – wie das, in dem ich selbst einmal gearbeitet habe: Der Themenmix reichte da vom Groschenroman über die Geschäftsberichte einer Sparkasse bis zum Register einer mehrbändigen Reise-Anthologie. In solcher Bandbreite wird inhaltliche Arbeit unmöglich, da kann es nur um die Korrektur von Komma-, Schreib- und Satzbaufehlern gehen. Und der Begriff „Lektorat“ führt in diesem Fall komplett in die Irre, denn das entspricht exakt der Aufgabenbeschreibung eines Korrektorats. Doch mein damaliger Chef ist keineswegs der Einzige, der da – absichtlich oder unabsichtlich – Begriffsverwirrung betreibt. Tatsache ist: Korrektorat ist Teil des Lektorats. Doch Lektorat ist viel mehr – siehe oben.
Es darf auch nicht unterschätzt werden, wie eng verzahnt die Bereiche Lektorat und Korrektorat sind. Genau das ist der Grund, weshalb ich zum Beispiel kein reines Korrektorat (mehr) anbiete: Es macht mich wie Kund/innen schlicht unglücklich. Da wird Geld für eine Leistung bezahlt, die nicht ausreicht, um das Ergebnis rundum gut zu machen. Und ich müsste ständig innehalten, wenn mir Fehler begegnen, für die ich nicht bezahlt werde.

Idealerweise definiert sich das Lektorat über seine Aufgaben. Das können Übersetzungen sein, große Fachgebiete, also „Wissenschaftslektorat“ in Medizin, Technik etc. Dazu kommen Werbetexte, Produktbeschreibungen, die interne Unternehmenskommunikation mit ganz eigenen Sprachrichtlinien und vieles mehr. Oder das Geschäft mit den SEO-Regeln, das Formulieren eines Textes, der den Parametern der wichtigsten Suchmaschinen entspricht, also von Grund auf diesen Richtlinien folgend aufgebaut sein muss. All dies kann ein Lektor, eine Lektorin anbieten. Muss aber nicht.

Abgrenzungen

Zusammenfassend würde ich sagen: Die Grenzen des Lektorats „nach unten“ sind halbwegs eindeutig fassbar: Korrektorat ist ein klar umrissener, eigener Arbeitsbereich, idealerweise Teil des Lektorats. Allerdings fällt schon hier Laien wie manchen Profis die Abgrenzung nicht leicht.

Viel schlimmer wird die Abgrenzung der Aufgaben, wenn sie sich ständig erweitern: um Herstellung und Internationalität, etwa bei Übersetzungen und allen damit verbundenen (beispielsweise rechtlichen) Fragestellungen. Oder bei Wissenschaft, Technik etc. und all dem dazu notwendigen Fachwissen. Bei der Digitalisierung und Umsetzung von Text in das entsprechend notwendige digitale Format – das stark variiert. Jeder Lektor, jede Lektorin hat eine andere Spezialisierung, denn all das gleichzeitig zu leisten, dürfte unmöglich sein. Das alles macht es so schwierig, eine allgemein gültige Definition für „Lektorat“ zu finden.

Dann auch noch das!

Außerdem habe ich noch gar nicht erwähnt, dass in manchen Stellenausschreibungen Lektoren für Kreuzfahrtschiffe gesucht werden. Das sind dann Experten zu bestimmten Wissensgebieten, die sich an Bord und auf Exkursionen um die Bildung der Kreuzfahrtteilnehmenden kümmern. Und auch die beiden großen christlichen Kirchen kennen Lektoren: In der katholischen Kirche darf ein Lektor liturgische Texte im Gottesdienst verlesen, in der evangelischen Kirche sogar in der Vertretung von Pfarrerin oder Pfarrer gleich ganze Gottesdienste abhalten. Natürlich sind diese letzten beiden Beispiele ziemlich exotisch und haben mit dem Grundbegriff „Lektorat“ nur wenig zu tun. Allerdings macht es die ohnehin schwierige Definition des Begriffs nicht gerade einfacher, dass es auch noch diese Einsatzmöglichkeiten der Tätigkeit als Lektor/in gibt.

Fazit Begriffsklärung: das Lektorat

Mein Fazit aus diesem – noch lang nicht abgeschlossenen – Versuch einer Begriffsklärung:

  • Egal, um welche Textart es geht: das Lektorat ist unverzichtbar. Es ist niemals automatisierbar, sondern muss von professionell geschulten Menschen erledigt werden.
  • Das Lektorat kann frei oder im Kontext eines Unternehmens (z.B. Verlag) angeboten werden. Dementsprechend variieren Zielsetzung und Aufgaben.
  • Lektorat ist NICHT gleich Korrektorat.
  • Das Lektorat kennt sehr viele unterschiedliche Bereiche der Spezialisierung.
  • Die Aufgabenbereiche des Lektorats verändern und erweitern sich ständig – vor allem in Richtung Digitalisierung.
  • Lektorinnen und Lektoren bilden sich ständig weiter, weil sie die Anforderungsfülle sonst niemals bewältigen könnten.
  • Ein guter Lektor/eine gute Lektorin bietet viele zusätzliche Dienstleistungen rund um das Kerngeschäft an – vor allem freie Lektorinnen und Lektoren tun das. Ein Überblick über all diese Dienstleistungen ist schwierig, aber lohnend.
  • Lektorat ist sehr viel mehr als eine für jeden Text notwendige Dienstleistung, kann nicht automatisiert werden und ähnelt in seiner Vielfalt manchmal stark der häufig gesuchten eierlegenden Wollmilchsau…
  • Darum: Unterschätzen Sie niemals die Kraft des Lektorats!

In eigener Sache

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Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.


 

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